Kindertötungen



Kindstötung

 
 
 
Eine Mutter tötet ihr Kind, Le Petit Journal 1908

Unter Kindstötung (auch Infantizid, von lat. infanticidium) versteht man die Tötung eines Kindes meist durch einenElternteil. Die Tötung eines Neugeborenen wird als Neonatizid bezeichnet.

 

 

Definition

Resnick (1970) definiert Neonatizid als die Tötung eines Kindes innerhalb von 24 Stunden nach seiner Geburt, Infantizid als die Tötung eines Kindes im Alter von einem Tag bis zu einem Jahr und Filizid als die Tötung von Kindern über dem Alter von einem Jahr.[1]

Statistik und Motive

DACHlastige Artikel Dieser Artikel oder Absatz stellt die Situation in Deutschland, Österreich und der Schweiz dar. Hilf mit, die Situation in anderen Staaten zu schildern.

Erhoben wurden 0,6 pro 100.000 Kinder unter 15 Jahren in Schweden (Somander & Rammer, 1991), bis zu 2,5 pro 100.000 Kinder unter 18 Jahren in den USA (Jason, Gilliland & Tyler, 1983) und 5 pro 100.000 Kinder in Finnland und Österreich.[2][3] Es wird angenommen, dass 2 bis 10 % der Fälle, die als plötzlicher Kindstod registriert werden, einem gewalttätigem Motiv unterliegen und in Wirklichkeit Kindstötungen sind (Emery, 1985).[4]

Zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Kindstötungen werden durch die leiblichen Mütter verübt.[2][3][5][6][7] Laut einer Studie von Raič war in 18 % der Fälle der Vater der Täter.[8]

Resnick untersuchte 1969 131 gerichtliche Fälle, in denen Mütter ihre Kinder getötet hatten, anhand von Befragungen und teilte diese Fälle nach Motiven in fünf Kategorien ein (ausgenommen Neonatizid):

  • Altruistischer Filizid: Tötung in Kombination mit Suizid des Täters oder um das Kind vor realem oder imaginärem Leid zu bewahren (56 % der Fälle).
  • Akut psychotischer Filizid: Tötung unter dem Einfluss von psychotischen Symptomen, Epilepsie oder Delir (24 %).
  • Tötung eines ungewollten Kindes (11 %).
  • Unbeabsichtigter Filizid oder „fatal battered child syndrome”: unbeabsichtigte Tötung eines Kindes aufgrund körperlicher Misshandlung (7 %).
  • Rache am Ehepartner: Tötung des gemeinsamen Kindes, um dem Ehepartner Leid zuzufügen (2 %)

Später definierte Wilczynski (1997) folgende Motive unabhängig vom Geschlecht der Täter:

  • „retaliating killings”: Tötung des gemeinsamen Kindes, um sich am (Ex-) Partner zu rächen,
  • Eifersucht auf oder Ablehnung durch das Opfer, wobei meist der Vater der Täter ist,
  • ungewolltes Kind als häufigster Grund für Neonatizid,
  • übermäßige körperliche Bestrafung des Kindes bei Weinen oder Ungehorsam,
  • Altruismus: „mercy killing” eines kranken oder geistig retardierten Kindes oder aufgrund einer Wochenbettdepression,
  • psychotischer Elternteil,
  • Munchausen Syndrome by Proxy,
  • sexueller Missbrauch,
  • Vernachlässigung ohne Absicht, das Kind zu verletzen oder zu töten, sowie unbekannte Gründe.

Ältere Untersuchungen fokussierten hauptsächlich die Motive der Mütter, später, dass nach D’Orbans (1979) eine prozentuale Mehrzahl bei Männern zu der Gruppe „Eltern, die ihre Kinder misshandeln“ anteilig sind. Meist ging in diesen Fällen hierbei ein Stimulus des Kindes voraus (Weinen, Erbrechen, Weigerung zu essen etc.). Die aktuelle polizeiliche Kriminalstatistik geht von einem Hellfeld-Anteil von 43,5 % Täterinnen bei Kindesmisshandlung aus. Neonatizide werden dagegen von Vätern statistisch weniger begangen (Stanton & Simpson, 2002) und es ist nur ein Fall einer Verurteilung bekannt.[9]

Die offizielle Polizeiliche Kriminalstatistik in Deutschland weist eine Abnahme der registrierten Fälle von Kindstötungen auf. Im Jahr 2006 wurden 202 Kinder Opfer von Tötungsdelikten, 2000 waren es noch 293. In 37 Fällen handelte es sich dabei um Mord, in 55 Fällen um Totschlag und in zwölf Fällen um Körperverletzung mit Todesfolge.[10] Eine laufende Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen unter Christian Pfeiffer weist nach Auswertungen zu rund 900 bis 1.000 gerichtlich abgeschlossenen Fällen von Kindstötungen eine erhöhte Rate im Osten Deutschlands auf. Gründe liegen nach Pfeiffer in sozialer Isolation und Armut sowie Überforderung junger Mütter in ihrer Mutterrolle.[11] Die Langzeit-Untersuchung von Werner Johann Kleemann, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Leipzig kommt unterdessen zu dem Ergebnis, dass es keine Belege dafür gibt, dass Kinder im Osten Deutschlands häufiger an Misshandlung oder Vernachlässigung sterben als im Westen.[12]

Kindstötungen in sogenannten Entwicklungsländern

Insbesondere in Ländern, in denen außerehelicher Geschlechtsverkehr gesellschaftlich sanktioniert wird und/oder in denen keine medizinischen Verhütungsmethoden zur Verfügung stehen, bzw. das Wissen darum gering ist, kommt es regelmäßig zu Kindestötungen. In Pakistan, einem Land, das von einer konservativ-islamischen Männergesellschaft dominiert wird, und in dem Abtreibung und Ehebruch illegal, und zum Teil mit der Todesstrafe bedroht sind, kommt es nichtsdestoweniger vielfach zu unerwünschten außerehelichen Schwangerschaften und Geburten. Nach Schätzungen der pakistanischen Edhi Foundation ereignen sich deswegen jedes Jahr etwa 1.100 Tötungen von Neugeborenen. Die zum Teil grausam getöteten Säuglinge werden häufig einfach im Müll entsorgt.[13]

Geschichte

Seit der Antike kennt die Gesellschaft die Tötung des Nachwuchses in Zeiten der Not, des Hungers oder aus anderen Beweggründen. Große Philosophen wiePlaton und Seneca befürworteten die verbreitete Sitte der Aussetzung bzw. aktiven Tötung „missgestalteter“ Neugeborener.

Im römischen Reich erstreckte sich die Patria Potestas des Familienoberhauptes auch auf Leben und Tod aller Familienangehörigen. Neugeborene mussten ihm zu Füßen gelegt werden und er entschied, ob das Kind aufgezogen wurde. Abgewiesene Kinder wurden allerdings oft nicht getötet, sondern ausgesetzt und konnten von jedermann als Sklaven aufgezogen werden. Dieses Recht wurde erst im Jahr 374 n. Chr. nach der zunehmenden Dominanz des Christentums im Römischen Reich abgeschafft, das Verbot musste mit drakonischen Strafen durchgesetzt werden.[14]

In der Kanalisation eines Badehauses im spätantiken Askalon wurden hunderte von Kinderskeletten gefunden. Die Knochen männlicher Neugeborener überwiegen deutlich, wie eine DNA-Analyse ergab. Man vermutet, dass das Badehaus auch als Bordell genutzt wurde und die Knochen den systematischen Infantizid männlicher Kinder anzeigen. Männliche Nachkommen konnten im Allgemeinen nicht in die beruflichen Fußstapfen der Mütter treten und diese somit entlasten. In der Umgebung der Ruinen von römischen Bordellen wurden wiederholt zahlreiche Baby-Skelette gefunden.[15][16][17]

In China wurden seit Jahrhunderten vor allem weibliche Nachkommen getötet, da diese im Vergleich zu Söhnen als weniger wertvoll betrachtet werden (Langer, 1974). Im mittelalterlichen jüdisch-christlichen Europa waren die Gründe für eine Kindstötung vorwiegend Unehelichkeit des Kindes und die Armut der Eltern (Moseley, 1986), aber auch Fehlbildungen des Kindes.

Vor dem Mittelalter bis in die Neuzeit kam es nicht selten vor, dass ein Elternteil sein Kind umbrachte, da er es nicht ernähren konnte. Zu dieser Zeit wurden Kindstötungen wie der Mord an Erwachsenen bestraft.

1516 erließen die Bambergische Halsgerichtsordnung und die Gerichtsordnung Kaiser Karls V. neue Vorschriften, die als übliche Strafe für Kindsmörder Pfählen, lebendiges Begraben oder Auseinanderreißen des Körpers mit glühenden Zangen vorsahen. Sie sollten als Abschreckung dienen. Das Motiv bzw. die Umstände wurden bei diesem Tatstrafrecht (nur die Tat zählt, nicht die Ursachen oder das Motiv) nicht beachtet, weshalb die Strafen auch keine abschreckende Wirkung hatten.

Im 17. und 18. Jahrhundert stieg die Zahl der Morde vor allem an außerehelich geborenen Kindern an, da die Frauen den Pranger und die öffentliche Züchtigungfürchteten. Hinzu kamen Heiratsbeschränkungen,[18] durch die eine eheliche Geburt in vielen Fällen von vornherein unmöglich war. Angesichts des Anstiegs der Tötungen begann Mitte des 18. Jahrhunderts ein Umdenkprozess. Der Wandel in der medizinischen Ausbildung an den Universitäten und die schrittweise Einführung gerichtsmedizinischer Begutachtung in den verschiedenen Reichsterritorien führten zum Beginn einer „Psychiatrisierung“ der Tat. Allerdings wurde hier juristisch – bis noch vor wenigen Jahren – genau zwischen verheirateten und ledigen Täterinnen (§ 217) unterschieden. Letzteren wurde nach oft verheimlichter Schwangerschaft weiterhin rationales und somit egoistisches Handeln unterstellt, während Ehefrauen per se als geistig verwirrt galten. Ihnen drohte ja keine entehrende Strafe nach einer Entbindung. Aufgrund der Verbreitung von Kindsmord-Geschichten durch medizinische Fallsammlungen entstanden in der Folge auch literarische Texte zu diesem Thema. (zum Beispiel WagnersDie Kindermörderin“ (Drama) oder die Gretchentragödie aus GoethesFaust I“.)[19]

Ende des 18. Jahrhunderts wurden Todesstrafen für Kindsmorde seltener und 1813 wurde im Bayerischen Strafgesetzbuch eine Gefängnisstrafe dafür festgelegt.

Geschlecht der getöteten Kinder

In fast allen Gesellschaften, in denen Kindstötung praktiziert wird, sind insbesondere weibliche Kinder betroffen (Femizid). Die Tötung weiblicher Kinder tritt üblicherweise in patriarchalischen Kulturen auf, in denen es eine starke Präferenz für Männer und eine Entwertung von Frauen gibt.[20] Frauenfeindlichkeit sowie bestimmte ökonomische Aspekte werden als die zwei wichtigsten Gründe dafür angegeben, dass die Tötung weiblicher Kinder häufiger ist als die Tötung männlicher Kinder. Die meisten Religionen verurteilen Kindstötung, unabhängig vom Geschlecht, seit jeher.[21]

Rechtslage

Deutschland (bis 1998)

Bis zum 1. April 1998 gab es im deutschen Strafgesetzbuch mit § 217 alter Fassung[22] eine spezielle Norm im Rahmen der Tötungsdelikte, die zuletzt mitKindstötung benannt war. Aufgehoben wurde sie mit dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1998. Diese Kindstötung legte einen milderenStrafrahmen fest und stellte gegenüber anderen Tötungsdelikten eine Privilegierung dar. Wegen seines eigenständigen Charakters verdrängte der damalige § 217 a. F. StGB auch die Tötung unter qualifizierenden Umständen (Mord) oder den Totschlag.

Der Tatbestand der Kindestötung umfasste die Tötung des nichtehelichen Kindes durch die Mutter während oder unmittelbar nach der Geburt. Die angedrohteMindestfreiheitsstrafe waren 3 Jahre, daher hatte das Delikt Verbrechenscharakter im Sinne von § 12 StGB. Minder schwere Fälle hatten einen Strafrahmen von sechs Monaten bis fünf Jahren.

Die Privilegierung ergab sich aus der psychischen Zwangslage der Mutter, ein Kind unter den Umständen der Nichtehelichkeit zu gebären oder geboren zu haben. Durch die gesellschaftliche Entwicklung, die inzwischen die Nichtehelichkeit (früher: Unehelichkeit) von Kindern als gewöhnlich akzeptiert, ist der Tatbestand obsolet geworden. Die psychische Zwangslage der Mutter aufgrund einer nichtehelichen Geburt kann heute aber zur Annahme eines minder schweren Falls des Totschlags führen.

Die Privilegierung konnte nur der Mutter zugutekommen. Teilnehmer an ihrer Tat, also Gehilfen oder Anstifter, wurden nach § 211 StGB (Mord) oder § 212StGB (Totschlag) je nach den Merkmalen des Teilnehmers und der Tat bestraft (§ 28 und § 29 StGB). Vgl. Urteil des Reichsgerichts vom 19. Februar 1940 RGSt 74, 84 – Badewannenfall.[23]

Die Nichtehelichkeit eines Kindes ergab und ergibt sich aus den zivilrechtlichen Vorschriften des Familienrechts. Die Mutter durfte mit dem Vater weder während der gesetzlichen Empfängniszeit noch zu Zeiten der Geburt in formell gültiger Ehe zusammengelebt haben.

Die Tötung musste mit Vorsatz während oder gleich nach der Geburt, also in der Zeit der andauernden Gemütserregung geschehen. Der Tatbestand konnte nicht durch Unterlassen verwirklicht werden.

Deutschland (seit 1998)

Seit 1998 ist Kindstötung nicht mehr gegenüber anderen Tötungsdelikten privilegiert. Der Strafrahmen hat sich daher nach oben erweitert. Entsprechende Taten werden meist als Totschlag mit mehreren Jahren Haft, teilweise als Mord mit lebenslänglicher Haft bestraft.[24]

Eine Mutter wurde am 12. Oktober 2010 in letzter Instanz wegen Mordes an ihrem Neugeborenen zu lebenslanger Haft verurteilt.[25] Im Dezember 2010 wurde eine andere Mutter in erster Instanz wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen an ihrem Säugling zu lebenslanger Haft verurteilt.[26] Der Tod eines Neugeborenen im August 2007 wurde für die 18-jährige Mutter als Totschlag nach Jugendstrafrecht mit 3 Jahren Haft bestraft.[27]

Österreich

Das Delikt der Tötung des Kindes bei der Geburt stellt nach § 79 des österreichischen Strafgesetzbuches (StGB) gegenüber dem Grunddelikt der vorsätzlichen Tötungsdelikte, dem Mord (§ 75 StGB), eine Privilegierung dar. Der Tatbestand liegt dann vor, wenn die Mutter das Kind während des Geburtsvorganges oder unmittelbar danach (sofern sie noch unter Einwirkung des Geburtsvorganges steht) tötet. Die Privilegierung kann nur der Mutter des Kindes zugutekommen (vgl.§ 14 Abs. 2 StGB).